Stoff für den Harn

Bei der chronischen Nierenerkrankung des Menschen spielen urämische Toxine (kurz U-Tox) eine so wichtige Rolle, dass sich eine Europäische Forschungsgruppe allein diesem Thema widmet. Diese Forschungsgruppe definiert urämische Toxine wie folgt:

  1. Der Blut- und Gewebespiegel des Toxins (= Gift) muss während der CKD (Chronic Kidney Disease, entspricht dem deutschen CNE = Chronische Nierenerkrankung) substantiell erhöht sein.
  2. Hohe Konzentrationen des Toxins stehen mit einem oder mehreren Symptome in direktem Zusammenhang. Das bedeutet, dass das Toxin die Symptome auslöst.
  3. Die biologische Aktivität des Toxins, also seine Schadwirkung, soll in Labor-Versuchen bei hohen Konzentrationen, wie sie bei CKD vorzufinden sind, bestätigt sein.
  4. Der für die Schadwirkung verantwortliche biologische Mechanismus soll bekannt sein. Man kann daran ablesen, dass manche urämische Toxine ihre Schadwirkung erst bei hohen Blutspiegeln ausüben.

 

Direkte Schadwirkung von Indoxylsulfat

Die Schadwirkungen beispielsweise von Indoxylsulfat und para-Kresylsulfat sind bereits mehrfach beschrieben worden (s. Blog-Beiträge „Weniger ist Mehr“ und „Urämische Toxine„).

Diese urämischen Toxine können ihre Schadwirkung unabhängig von Ihrer Blut- und Gewebekonzentration direkt ausüben. Letztendlich ist aber eine Anreicherung in Blut und Gewebe durch eine verringerte Ausscheidung bei der CNE der Grund für die auftretenden Symptome und das Fortschreiten der Erkrankung. Gerade auch deswegen, weil Indoxylsulfat und para-Kresylsulfat die Nieren direkt schädigen und damit zu einer höheren Sterblichkeit führen.

 

Schwankender Harnstoffwert

Dieser Zusammenhang zwischen höherer Sterblichkeit und Harnstoff-Konzentration konnte bislang nicht nachgewiesen werden. Harnstoff (= Urea) ist ein natürlich vorkommendes Produkt des Proteinstoffwechsels. Sein Blutspiegel ist dabei nicht nur von der Nierenleistung abhängig, sondern auch von einer proteinreichen Kost, dem Flüssigkeitsgehalt im Körper (z.B. Dehydrierung) und Darmblutungen. Das bedeutet, dass die Harnstoffkonzentration per se Schwankungen unterliegt. Auch in Versuchen konnte bislang die Schadwirkung von Harnstoff nicht nachgewiesen werden. Im Gegenteil, Harnstoff wurde eine positive Wirkung unterstellt, so dass einigen Patienten sogar Harnstoff oral verabreicht wurde.

 

Graue Katze auf grüner Wiese mit illustrierter Darm-Nieren-Achse
Urämische Toxine haben ihren Ursprung im Darm, lösen ihre Schadwirkungen jedoch an den Nieren aus. Man spricht daher auch von der Darm-Nieren-Achse.

Veränderung der Darmflora

Die Autoren Verdier, Soulage und Koppe (2022) berichten, dass sich in großangelegten Versuchen ein wie bei CNE erhöhter Harnstoff-Blutspiegel als ein Auslöser für Diabetes, gerade bei fettleibigen Personen, erwies. Auch zeigte sich bei hohen Konzentrationen an Harnstoff eine Veränderung der Darmflora bei Mäusen. Der Zusammenhang zwischen der Produktion an urämischen Toxinen wie Indoxylsulfat und para-Kresylsulfat steht in direktem Zusammenhang mit der Darmflora. Beide urämische Toxine entstehen aus dem Proteinstoffwechsel durch den Abbau von Aminosäuren durch Darmbakterien. Da die urämischen Toxine ihren Ursprung im Darm haben, aber ihre Schadwirkung an den Nieren (und anderen Organen und Geweben) auslösen, wird auch von der Darm-Nieren-Achse gesprochen (s. Blog-Beitrag „Der Darm hat nicht nur Charme„). Gerade diese Darmbakterien können bei CNE überwiegen und zu einem Ungleichgewicht der Darmflora (der sogenannten Dysbiose) führen. Dieser Effekt wird auch durch einen erhöhten Indoxylsulfat-Blutspiegel verursacht.

 

Harnstoff als Mediator

Bei CNE-Patienten konnten hohe Spiegel an Harnstoff mit zentralnervösen Störungen wie Depression in Zusammenhang gebracht werden. Kognitive Einschränkungen sind auch bei erhöhten Indoxylsulfat-Spiegeln berichtet worden (s. Blog-Beitrag „Wenn CNE das Hirn vernebelt„). Harnstoff fungiert auch als Mediator für andere Schadstoffe, die bei der CNE in Erscheinung treten und zu einem bindegewebigen Umbau der Nieren und Reduktion der Nierenfunktion führen. Der bindegewebige Umbau der Nieren ist ein Hauptgrund für die verringerte Nierenleistung, weil bindegewebige Narben nicht funktionsfähig sind.

Gerade hohe Mengen an Harnstoff – wie sie bei der chronischen Nierenerkrankung auftreten, haben diesen Effekt.

 

Harnstoff als Hinweis auf urämische Toxine

In der Tiermedizin wird bislang der Harnstoff-Blutspiegel als Teil des Nierenprofils bei der CNE-Katze routinemäßig mit untersucht. Für die Diagnosestellung und die Einteilung in die vier CNE-Stadien orientiert sich die IRIS (International Renal Interest Society) am Kreatininwert. Der Kreatininwert ist aussagekräftiger, da der Harnstoffwert verschiedenen Schwankungen unterliegt. Der Harnstoffwert gilt dabei eher als stellvertretender Hinweis für die Höhe an urämischen Toxinen. Urämische Toxine wie Indoxylsulfat können mittlerweile eigenständig gemessen werden.

 

 

Quellen: